Was schlechte Noten anrichten können, wird oft thematisiert: Bei wiederholten Misserfolgs-Erlebnissen leidet die Motivation des Kindes, was schließlich zu starken Problemen mit dem Selbstwertgefühl und dem Selbstbewusstsein führen kann.
Aber wie sieht es aus, wenn eine Person Noten bekommt, die nicht dem eigentlichen Leistungsstand entsprechen, die zu gut sind? Kann auch das problematisch sein?
Drei Fälle zur Fragwürdigkeit zu guter Benotungen
Immer wieder stoße ich auf Fälle, die zu meiner Fragestellung passen, ob zu gute Noten problematisch sein könnten. Diese drei sind mir in letzter Zeit untergekommen.
Situation 1:
In meinem Umfeld gibt es einige Grundschulkinder, die gute Deutschnoten erhalten trotz massiver Probleme in mehreren Teilbereichen (Ausdrucksfähigkeit, Leseverständnis, Grammatik, Rechtschreibung). Die Motivation, an den Problembereichen zu arbeiten, ist bei einigen dieser Kinder gering oder gar nicht vorhanden. Warum auch? Schließlich haben sie ja eine gute Note!
Situation 2:
In Berlin erfolgt der Übergang in die weiterführende Schule nach der 6. Klasse. Um einen Platz an einer begehrten Schule zu bekommen, sind die Noten ausschlaggebend. Sehr viele Berliner 6.-Klässler haben einen Einser-Notendurchschnitt. Und so kommt es, dass selbst Kinder mit einem Durchschnitt von 1,0 nicht an ihrer Wunschschule aufgenommen werden und in der Folge weite Schulwege in andere Berliner Bezirke zurücklegen müssen. (Mehr dazu lesen kannst du in diesem Spiegel-Artikel)
Situation 3:
Sicherlich kennst du auch die Klagen, dass die Jugend immer schlechter wird und weniger kann als die ältere Generation. Das sind übrigens Klagen, die schon aus dem alten Griechenland bekannt sind. Meckern hier einfach nur ältere Personen, weil Jüngere bessere Noten haben als sie selber oder steckt vielleicht mehr dahinter?
Der Lehrerverbandspräsident Meidinger spricht von einer Noteninflation. Für gleiche Leistungen würden immer bessere Noten vergeben. Dafür spricht die Tatsache, dass die Zahl der jungen Menschen, die ihr Abitur mit einem 1er-Schnitt erhalten, in den letzten Jahren immer mehr angestiegen ist: Über 30% der deutschen Abiturient*innen haben 2022 einen Schnitt von 1,0-1,9 erreicht, in Thüringen sind es sogar knapp 45%.
Gleichzeitig gebe es immer mehr Klagen von Universitäten und Ausbildungsbetrieben über die Qualität der Schulabgänger, so Meidinger weiter. Wie passt das nun zusammen?
Die Problematik zu guter Noten
An den drei Beispielen wird bereits deutlich, dass durch zu gute Schulnoten einige der Funktionen von Schulnoten ausgehebelt werden können.
Insbesondere betroffen ist die Zuteilungs-, Selektions- oder Auswahlfunktion. Durch eine gute Note sollte eigentlich gewährleistet sein, dass eine Person in dem Bereich kompetent ist und deshalb einen bestimmten Platz im (Bildungs-)System verdient. Wenn allerdings zu viele eine gute Note erhalten und der Bezugsrahmen für die Benotung unklar ist, eignen sich Zensuren nicht mehr als Auswahlkriterium. Ein Beispiel dafür ist die Situation der Berliner Schüler*innen beim Übergang in die weiterführende Schule.
Eine weitere Funktion, die Noten zugeschrieben wird, ist die Rückmeldung an die Schüler*innen und die Eltern über den aktuellen Leistungsstand. Eine zu gute Note kann dazu führen, dass das Kind und seine Familie der Ansicht sind, dass die Leistungen des Kindes in Ordnung sind und weiteres Engagement in dem Bereich nicht notwendig ist.
Was könnten die Gründe für zu gute Noten sein?
In meinem Blog-Artikel „Ist die Note meines Kindes gerechtfertigt?“ habe ich ausgeführt, wie schwierig es als Außenstehende ist, die Notengebung nachzuvollziehen. Und auch bei der Vergabe von zu guten Noten kann ich nur vermuten, was eine Lehrkraft dazu bewegt. Folgende Gründe fallen mir ein:
1. Das Kind steht zwischen zwei Noten
Aus meinen Lehrerinnen-Zeiten weiß ich noch, dass es relativ oft passiert, dass ein Kind zwischen zwei Noten steht.
Ein Teil der Lehrkräfte tendiert dazu, die bessere Note zu geben. Sie erhoffen sich, dass das Kind dadurch dazu motiviert wird, seine Leistung so stark zu verbessern, dass die Note schließlich gerechtfertigt ist.
2. Eine Form des Protests gegen Noten und das Bewertungssystem
Was man an Schulen auch öfter beobachten kann, dass Lehrkräfte nicht die komplett mögliche Noten-Bandbreite ausnutzen. Mehrmals beobachtet habe ich , dass in Musik, Kunst und Religion nur die Noten 1 und 2 vergeben wurden. Eine Begründung der Lehrer*innen, die so verfahren haben, war: „Mir ist die Kunst/Musik/Religion so wichtig, ich möchte nicht, dass einem Kind der Zugang dazu durch eine schlechte Note verwehrt wird.“
Andere Lehrkräfte sehen das ganze Noten- und Bewertungssystem sehr kritisch und wollen bei der Selektion von Schüler*innen durch die Vergabe konstant guter Zensuren nicht mitmischen.
3. Vermeidung von möglichen Konflikten
Wenn Lehrkräfte eine schlechte Note geben, müssen sie damit rechnen, dass sie die Benotung rechtfertigen müssen. Ich vermute, dass es Lehrer*innen gibt, die zu gute Noten verteilen, um möglichen Konflikten mit Schüler*innen und/oder Eltern aus dem Weg zu gehen.
4. Geringere Anforderungen
Und vielleicht sind die Anforderungen an die Schüler*innen wirklich geringer geworden?
Zu gute Noten sind problematisch!
Fassen wir zusammen: Zu gute Noten sind problematisch, weil sie die Zuweisungs- und die Rückmeldefunktion aushebeln und den Schüler*innen ein falsches Selbstbild bezüglich ihrer Leistungen und Fähigkeiten vermitteln können.
Darüber hinaus ist es für wirklich exzellente Schüler*innen ungerecht, dass sie sich nicht mehr notenmäßig von der breiten Masse der übrigen Einser-Kandidaten abheben können.
Und nun?
Was könnte nun eine Lösung sein? Um Schüler*innen und Eltern eine hilfreiche und fundierte Rückmeldung über den Leistungsstand zu geben, halte ich verbale Beurteilungen für sinnvoller als Ziffernnoten. Daraus geht klar hervor, was das Kind schon kann und wo es noch nicht ganz fit ist.
Für die Zuteilung oder Auswahl eignen sich verbale Gutachten meiner Ansicht nach nicht. Ziffernnoten sind hierfür allerdings auch kritisch zu sehen. Deshalb wünsche ich mir, das bei der Vergabe von Plätzen an Schulen, Universitäten, Lehrbetrieben oder in der Arbeitswelt andere Auswahlverfahren eingeführt werden.
Liebe Ilka,
ich bin über FB auf diesen Blogartikel aufmerksam geworden, aber ich konnte dort nicht auf einen Link hierhin klicken. Es könnte sein, dass Du da interessierte Menschen ausbremst.
Du beschreibst sehr schön die Situationen, in der Noten vergeben werden. Aber was wäre Deine Lösung denn konkret? Andere Auswahlverfahren? Ich erinnere mich daran, dass ich, als ich von der damaligen Hauptschule auf die Handelsschule wechseln wollte, dort eine Aufnahmeprüfung machen musste. Ich fand das damals nicht schlimm. Wären Aufnahmeprüfungen für weiterführende Schulen (außer Regelschulen, wie in Bayern die Mittelschule) eine Lösung? Von verbalen Gutachen halte ich ebenfalls nichts.
Viele Grüße – Siegbert