Heute arbeite ich als Trainerin für Menschen mit Legasthenie. Mein Weg dahin hat bereits während meines Studiums begonnen, als ich Alphabetisierungskurse gegeben und Erwachsenen Lesen und Schreiben beigebracht habe.
Teilweise beherrschten die Teilnehmer*innen die Schriftsprache nicht in ausreichendem Umfang, weil sie erst nach ihrer Schulzeit nach Deutschland gekommen waren. Einige Kursbesucher*innen hatten allerdings ihre Schulbildung in Deutschland erhalten und konnten dennoch nicht richtig lesen und schreiben.
Ich bekam mit, mit welchen Problemen und Herausforderungen die Männer und Frauen aus dem Kurs in ihrem ganz normalen Alltagsleben wegen ihrer mangelnden Schriftsprachkompetenz konfrontiert waren. Briefe konnten sie nicht entziffern, beim Einkaufen und Amtsgängen gab es Probleme, den Kindern konnten sie bei schulischen Themen nicht helfen, qualifizierte Jobs waren für sie unerreichbar.
Bei meinen Kursteilnehmer*innen handelte es sich um starke Persönlichkeiten, die trotz Familie und/oder Job noch einmal die Schulbank drückten, um lesen und schreiben zu lernen. Dafür bewunderte ich sie sehr.
Gleichzeitig wünschte ich mir, dass niemand mehr in ihrer Situation sein müsste. Ich wollte dazu beitragen, dass weniger Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse die Schule verlassen und dieser Wunsch führte mich über einige Schlenker zu dem, was ich heute beruflich mache: Menschen unterstützen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben habe.
In meiner Biografie gibt es also einen Zusammenhang zwischen Legasthenie und Analphabetismus. Gibt es diesen Zusammenhang auch im realen Leben? Schauen wir uns dafür erst einmal die Begriffe an.
Darum geht es hier:
1. Was ist Legasthenie?
Legasthenie/LRS ist eine von der WHO anerkannte Teilleistungsstörung. Gemeint ist damit, dass ein Kind mit dem Erwerb der Schriftsprache außergewöhnliche Schwierigkeiten hat, die nicht darauf zurückzuführen sind, dass es nicht regelmäßig die Schule besucht hat, über ausreichende Intelligenz verfügt und keine neurologischen Erkrankungen hat, die das Hör- und Sehvermögen dauerhaft einschränken.
Legasthenie/LRS ist eine komplexe Störung, die verschiedene Ursachen haben kann. Da Eltern mit Legasthenie/LRS häufig Kinder haben, die ebenfalls unter gravierenden Problemen mit dem Lesen und Schreiben leiden, geht man im Allgemeinen von einer genetischen Veranlagung aus. Untersuchung haben gezeigt, dass bei Kindern mit Lese- und Schreibproblemen bestimmte Hirnregionen weniger aktiv sind als bei Gleichaltrigen ohne diese Schwierigkeiten.
Durch diese veränderten Hirnaktivitäten ist nicht davon auszugehen, dass sich die Probleme mit dem Lesen und Schreiben auswachsen. Mit einer passenden Förderung können Kinder mit Legasthenie/LRS allerdings lernen, ihre schriftsprachlichen Defizite auszugleichen.
2. Wie findet man heraus, ob eine Person unter Legasthenie/LRS leidet?
Die Testung auf Legasthenie/LRS führen in der Regel Kinder- und Jugendpsychiater und -psychologen oder Mitarbeiter von Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) durch und sie besteht aus verschiedenen Teilen:
- Schulbericht und Leistungsstandmitteilung, Bericht über die individuelle Lernentwicklung
- Lesetest
- Überprüfung der phonologischen Bewusstheit (Lautbewusstheit. Erkennt und unterscheidet das Kind Laute? Kann es Laute zu Silben verbinden? Erkennt es Reime und kann selber welche bilden?)
- Rechtschreibtest
- Intelligenztest
- Untersuchung des Verhaltens
- neurologische Untersuchungen inklusive Überprüfung der Hör- und Sehfähigkeit
Die im professionellen Umfeld eingesetzten Tests sind standardisiert. Feste Kenngrößen geben darüber Auskunft, ob eine Person Legasthenie/LRS hat und wie stark die Ausprägung ist.
3. Was ist Analphabetismus?
Unter Analphabetismus versteht man im Allgemeinen, dass ein Mensch die Schriftsprache nicht beherrscht, weil er nicht lesen und schreiben gelernt hat.
Da es in Deutschland eine strenge Schulpflicht gibt, sollte man meinen, dass es keine Analphabeten gibt. Weit gefehlt: Die UNESCO geht davon aus, dass etwa 6,2% der Deutsch sprechenden Erwachsenen gravierende Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, das sind 12 % der Gesamtbevölkerung.
Einige der Schriftunkundigen sind erst nach ihrer Schulzeit nach Deutschland gekommen und beherrschen deshalb die deutsche Schriftsprache nicht. Aber immerhin sind 4,4 Millionen der Menschen ohne ausreichende Schriftsprachkenntnisse deutsche Muttersprachler.
4. Was ist funktionaler Analphabetismus?
Die mehr als 4 Millionen Menschen in Deutschland mit nicht ausreichenden Kenntnissen im Lesen und Schreiben sind funktionale Analphabeten. Sie haben zwar die Schule besucht, verfügen aber im Erwachsenenalter nicht über die schriftsprachliche Kompetenzen, „(…) die minimal erforderlich sind, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.“ (Definition nach Egloff/Grosche/Hubertus/Rüssler 2011; zitiert nach: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.)
Gewisse Kenntnisse der Schriftsprache liegen bei Personen mit funktionalem Analphabetismus vor, doch reichen diese nicht aus, um in der Gesellschaft problemlos handeln zu können.
Im Gegensatz zur Legasthenie/LRS gibt es keine festen Kenngrößen, wann eine Person unter funktionalem Analphabetismus leidet. Die gesellschaftlich und beruflich erforderlichen Lese- und Schreibkenntnisse sind stark abhängig von der Gesellschaft, in der eine Person lebt. In den hochentwickelten Industrienationen wie Deutschland werden von den Einwohnern gute Kenntnisse der Schriftsprache erwartet.
Wer in unserer Gesellschaft nicht sicher lesen und schreiben kann, schämt sich häufig dafür und steht nicht offen zu den Problemen mit dem Lesen und Schreiben. In der Folge kommt es bei vielen Betroffenen zu Vermeidungshandlungen, damit die Umwelt die Probleme mit dem Lesen und Schreiben nicht mitbekommt. Auf Dauer kann dieses ständige Verstecken der mangelnden Schriftsprach-Fähigkeiten zu psychischen Problemen führen.
5. Wie kommt es zu funktionalem Analphabetismus?
Interessant ist natürlich die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass Erwachsene die Pflichtschuljahre absolviert haben und dennoch nicht ausreichend lesen und schreiben können.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Manche Personen verlernen ganz schlicht und einfach nach der Schulzeit das Lesen und Schreiben wieder, weil sie die Schriftsprache in ihrer aktuellen Lebenssituation kaum benötigen und kein besonderes Interesse am Lesen und Schreiben haben. Diese Personengruppe dürfte mit etwas Aufwand wieder ein gewisses Niveau im Lesen und Schreiben erreichen können.
Ganz anders sieht es mit denjenigen aus, die als Kind und Jugendliche kein halbwegs solides Fundament in der Schriftsprache aufbauen konnten. Gründe hierfür können sein, dass der Schulbesuch wegen Krankheit oder aus anderen Gründen unregelmäßig war, das Kind durch Probleme beim Lernen der Schriftsprache blockiert war, keine Förderung bei Schwierigkeiten angeboten wurde.
6. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Legasthenie/LRS und Analphabetismus?
Wenn wir uns den letzten Punkt noch einmal genauer ansehen, dann wird deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen Legasthenie/LRS und funktionalem Analphabetismus geben KANN.
Iris Füssenich, eremitierte Professorin für Sprachbehindertenpädagogik an der PH Ludwigsburg, ist der Ansicht „(w)er in der Schule lese- und rechtschreibschwach ist und bleibt, wird nach der Schulentlassung zu den funktionalen Analphabeten gehören.“ (zitiert nach Lesen in Deutschland)
7. Frühzeitige Förderung hilft
Je früher ein Kind mit Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb eine passgenaue Förderung erhält, desto besser sind die Aussichten, dass es seine Defizite ausgleichen kann. Somit läuft es auch nicht Gefahr, dass es irgendwann unter funktionalem Analphabetismus leiden könnte.
Für die eigentliche Förderung ist es übrigens zweitrangig, ob dein Kind eine diagnostizierte Legasthenie/LRS hat oder nicht. Wichtig ist nur, dass dein Kind konsequente Unterstützung und Hilfestellungen (z.B. in Form eines Nachteilsausgleichs) erhält und daran arbeitet, Strategien aufzubauen, um mit den Defiziten beim Lesen und Schreiben besser umgehen zu können.
Übrigens unterstütze ich neben Kindern und Jugendlichen mit Schreib- und Leseproblemen auch Erwachsene, die sich in diesem Bereich verbessern möchten. Melde dich einfach zu einem unverbindlichen Kennlerngespräch per Zoom oder am Telefon.
Ich finde, dass bei diesem Thema in der gesamten Literatur die Begriffe Schwäche und Störung nicht sauber getrennt werden. Aber ich finde das ganz natürlich, denn eine klare Trennung ist nach meiner Überzeugung auch gar nicht möglich. Gerade die Frühförderung ist ein Beweis dafür. Denn alle, auch Du, sind davon überzeugt, dass dadurch Probleme – einschließlich Legasthenie – vermieden werden können. Das ist auch wissenschaftlich bewiesen. Wenn das aber so ist, dann macht eine Unterscheidung zwischen Schwäche und Störung keinen Sinn. Wenn es für die eigentliche Förderung, so wie Du schreibst, und ich bin derselben Meinung, zweitrangig ist, ob eine diagnostizierte Legasthenie vorliegt oder nicht, dann macht es doch auch keinen Sinn, diese Diagnose überhaupt zu stellen. Und deswegen schreibe ich diesen Kommentar! Diese ganze Testerei der Kinder, die einen Status zum Tag X feststellt, ist ein Wahnsinn. Es wäre wesentlich billiger und auch effektiver, die Kinder einfach qualifiziert zu fördern!