Warum Legasthenie nicht „einfach so“ verschwindet

Warum Legasthenie nicht einfach so verschwindet _ Ilka Kind in weißer Strickjacke steht mit überschlagenen Armen vor einem Bücherregal

Dass Legasthenie in manchen Familien vermehrt auftritt, ist bekannt. So ist das auch in einigen Familien meiner Lernkinder; Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Opa oder Oma hatten ebenfalls massive Schwierigkeiten mit dem Lesen- und Schreibenlernen.

In Gesprächen mit diesen Familien entsteht häufig der Eindruck, dass Legasthenie eine vorübergehende Erscheinung der Kindheit und Jugend sei, denn immer wieder höre ich Sätze wie diese: „Mein Mann hatte als Kind auch Legasthenie“ oder „Bis zur 10. Klasse hatte ich Legasthenie, dann wurde es besser.“

Dass Legasthenie einfach so verschwindet und nur junge Menschen betrifft, stimmt nicht. Und trotzdem haben die Aussagen der Eltern ihre Berechtigung.

Wie das sein kann, darum soll es in diesem Text gehen. Schauen wir uns erst einmal an, was überhaupt Legasthenie ausmacht.

1. Was ist Legasthenie?

Menschen mit Legasthenie haben massive Schwierigkeiten mit dem Lesen- und Schreibenlernen. Und das, obwohl sie ganz regulär die Schule besuchen bzw. besucht haben und über eine normale Intelligenz verfügen. Da nur ein bestimmter Bereich des schulischen Lernens bei Legasthenie betroffen ist, nämlich die Sprache, spricht man von einer Teilleistungsstörung.

Wie schon erwähnt, tritt in manchen Familien Legasthenie gehäuft auf. Das liegt daran, dass die Veranlagung zur Legasthenie vererbt wird. Forscher gehen davon aus, dass für die Legasthenie mehr als 40 Gen-Orte verantwortlich sind. (Mehr dazu hier). Bei betroffenen Menschen hat das Gehirn bestimmte Fähigkeiten nicht entwickelt, die für die Verarbeitung von Sprache wichtig sind.

Was ist der Unterschied zwischen Legasthenie und LRS?

Die Abkürzung LRS ersetzt in den letzten Jahren zunehmend den Legasthenie-Begriff, den viele als diskriminierend empfinden. Ganz durchgesetzt hat sich dies allerdings nicht, denn teilweise werden beide Begriffe parallel in der selben Bedeutung benutzt.

Das ist verwirrend. Was die ganze Sache noch komplizierter macht: Fachleute lösen die Abkürzung „LRS“ nicht einheitlich auf und so kann LRS Lese-Rechtschreibschwierigkeit-schwäche oder -störung bedeuten.

Und damit noch nicht genug der Verwirrung: Gerade im schulischen Bereich wird mit LRS oftmals die erworbene Schwierigkeit beim Lesen- und Scheibenlernen bezeichnet.

Oft haben Kinder mit Legasthenie Schwierigkeiten mit der visuellen Verarbeitung, also der Verarbeitung von Dinge, die man sehen kann. Andere Kinder zeigen Schwierigkeiten mit der auditiven Wahrnehmung, also mit allem, was sie hören.

Das macht sich oft schon im Kindergartenalter bemerkbar, wenn ein Kind Schwierigkeiten hat, Laute, Silben oder Reime zu erkennen. Fachleute sagen dann, dass das Kind Probleme mit der phonologischen Bewusstheit hat. Die phonologische Bewusstheit ist eine wichtige Grundlage, um lesen und schreiben zu lernen.

Auch beobachtet man immer wieder, dass betroffene Personen eine geringere Leistung des Arbeitsgedächtnisses haben. Sie können sich also weniger für eine kurze Zeit merken.

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2. Wieso „verschwinden“ die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben?

Eine Legasthenie verschwindet nicht einfach so und dennoch kann es passieren, dass betroffene Menschen ihre Schwierigkeiten mit der Schriftsprache überwinden und gut lesen und schreiben können. Unterschiedliche Wege können dahin führen.

a. Kompensation

Unter Kompensation versteht man im Allgemeinen, dass eine Beeinträchtigung ausgeglichen wird.

Ein typisches Beispiel für Kompensation bei Kindern mit Legasthenie ist das Auswendiglernen. Dadurch, dass das Auswendiglernen für viele betroffene Mädchen und Jungen extrem wichtig ist, um in der Schule zurecht zu kommen, sind sie oft sehr geübt darin und können sich sehr viel merken. Ist doch gar nicht so schlecht, könnte man meinen.

Aber es ist ein riesiger Kraftakt, vieles auswendig zu lernen und kann für ein Kind sehr herausfordernd sein. Gerade in stressigen Situationen kann es passieren, dass das Kind nicht mehr auf das Auswendiggelernte zurückgreifen kann, weil es zu aufgeregt und dadurch blockiert ist.

Sehr eindringlich beschreibt der Ministerpräsident von Thüringen (Stand Mai 2024) Bodo Ramelow in der Arte-Dokumentation „Legasthenie – Wir dachten immer, du bist dumm“ (Arte Mediathek), wie für ihn das Auswendiglernen ein wichtiger Anker wurde, um mit seiner Legsthenie umgehen zu können. Er verschweigt aber auch nicht, wie anstrengend dieser Ausgleichs-Versuch war und immer noch ist.

b. Anwenden von Strategien

Sinnvoller ist es, wenn Kinder mit Legasthenie hilfreiche Strategien anwenden, um mit ihren Herausforderungen umzugehen. Strategien helfen dabei, dass ein Kind seine Fähigkeiten optimal nutzen kann und die Auswirkungen der Beeinträchtigung verkleinert werden. Dafür ist es sinnvoll, ein ganzes Sortiment an Strategien zur Verfügung zu haben.

c. Rechtschreibstrategien

Für das korrekte Schreiben sind Rechtschreibstrategien sehr hilfreich. Wer sie beherrscht, muss nicht die Schreibung eines jeden einzelnen Wortes auswendig lernen. Die Rechtschreibstrategien kann man als Handlungsanweisungen verstehen, um die Schreibung eines Wortes zu überprüfen.

Rechtschreibstrategien – Rechtschreibregeln: Was ist der Unterschied?

Die 120 deutschen Rechtschreibregeln sind Vorschriften, wie ein Wort geschrieben werden muss. Die Anzahl der Rechtschreibstrategien ist wesentlich geringer und deshalb einfacher anzuwenden.

Da die Rechtschreibstrategien Ausnahmen von der Regelschreibung nicht berücksichtigen, werden diese als Merkwörter behandelt.

Ein Beispiel für eine Rechtschreibstrategie ist die Verlängerungsprobe. Wenn eine Person nicht weiß, ob ein Wort am Ende mit d oder t geschrieben wird, verlängert sie das Wort einfach: Hand -> Hände. In der verlängerten Form hört man, dass das Wort mit d am Ende geschrieben werden muss. Also steht am Ende von Hand auch ein d.

d. Lesestrategien

Für das Lesen gibt es ebenfalls Strategien; am wichtigsten sind solche, die auf ein gutes Textverständnis zielen. Eine sehr bekannte Lesestrategie ist das „Skimming“, das Überfliegen eines Textes. Aber auch das Zurückgreifen auf Vorwissen oder Vermutungen über den weiteren Inhalt des Textes anstellen gehören zu den Lesestrategien.

e. Lernstrategien

Idealerweise verfügen Kinder mit Legasthenie auch über ein Repertoire an Lernstrategien, die dabei helfen, das eigene Lernen gut zu strukturieren und zu organisieren.

Eine Erfolgsgeschichte: Sina,14 Jahre

Ein gutes Beispiel dafür, dass konsequentes Trainieren und Üben bei Menschen mit Legasthenie gute Erfolge erzielen kann, ist Sina. Ich lernte sie vor ein paar Jahren kennen, als sie in der 8. Klasse war und ich ihre Deutschlehrerin wurde.

Bei ihr war während der Grundschule Legasthenie festgestellt worden. Seitdem hatte sie einmal wöchentlich Lerntherapie. Sie war in der 8. Klasse so fit in der Rechtschreibung, dass sie sie besser beherrschte als einige Klassenkamerad*innen. In der 9. Klasse verzichtete sie auf den Nachteilsausgleich. Den brauchte sie auch nicht mehr, denn ihre Rechtschreibung hatte keine negativen Auswirkungen auf ihre Deutschnoten.

3. Und wie ist das mit der Rechtschreibung bei Kindern ohne Legasthenie?

Die Aneignung des (Recht-)Schreibens ist kein Entwicklungsschritt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt. Es handelt sich um Lernprozess, den wir durchlaufen müssen. Daher verschwinden auch bei Kindern ohne Legasthenie Rechtschreibprobleme nicht „einfach so“. Abwarten ist keine gute Idee, wenn sich ein Kind mit der Schriftsprache schwer tut.

Genau wie von Legasthenie Betroffene profitieren Kinder ohne eine Diagnose davon, wenn sie Strategien zum Lernen, Lesen und Schreiben kennen und anwenden.

Bei mir im Lerntraining ist es nicht wichtig, ob ein Kind eine Legasthenie-Diagnose hat oder nicht. Ich mache alle Kinder, mit denen ich arbeite, mit Werkzeugen bekannt, um ihr eigenes Schreiben, Lesen und Lernen besser in den Griff zu bekommen. Übrigens biete ich auch für Erwachsene mit Legasthenie oder Rechtschreibproblemen Unterricht an.

4 Kommentare zu „Warum Legasthenie nicht „einfach so“ verschwindet“

  1. Hallo Ilka,
    ich habe auch Legasthenie – heute nennen die Ärzte LRS – auch zwei meiner Kinder haben Anzeichen davon.
    Was ich sagen kann: Es wird besser, wenn man sich immer wieder zum Lesen und Schreiben zwingt. Auch ich habe solche Strategien gelernt. Vor allem habe ich gelernt, dass ich ein vollwertiger Mensch bin, auch wenn ich mir mit dem Lesen schwertue. Das hab ich als Kind nicht so empfunden.

    Heute blogge ich sogar mit Leidenschaft – trotz LRS.

    Darüber habe ich die letzten Wochen sogar einen Blogbeitrag geschrieben, falls er dich interessiert … kannst du ja gerne mal auf meinem Blog vorbeischauen.

    LG
    Birgit

    1. Liebe Birgit,

      ganz vielen Dank für deine Worte. Was du schreibst- dass man auch ohne tolle Lese- und Schreibkenntnisse ein vollwertiger Mensch ist – ist so eine wichtige Sache! Für mich ist es bei meiner Arbeit mit betroffenen Kindern deshalb ganz wichtig, sie Erfolge erleben zu lassen und ihnen so Schritt für Schritt zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen.
      Übrigens hat mich deine Geschichte, die ich auf deinem Blog gelesen habe, sehr berührt und ich finde sie sehr ermutigend!

      Ganz viele Grüße
      Ilka

  2. Ich habe keine Legasthenie und kenne sie auch aus dem nahen Umfeld nicht. Trotzdem fand ich Deinen Blogartikel sehr interessant und lesenswert (und sehr gut geschrieben). Ich bin immer neugierig, wie Dinge bei uns Menschen entstehen.

    Vielen Dank und wenn ich jemenden kenne, der/die damit zu tun hat, weiß ich, wohin ich ihn/sie schicken kann.

    LG Marita

    1. Liebe Marita,

      vielen Dank für deine netten Worte. Ich finde es auch gut, über den Tellerrand zu schauen und immer mal wieder in neue Themen einzutauchen. Danke, dass du das bei mir getan hast!

      Viele Grüße
      Ilka

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