Erinnerst du dich noch an dieses wunderbare Gefühl, während dir vorgelesen wird, du in einen tranceähnlichen Zustand gerätst und ganz in das Geschehen vertieft bist? Eigentlich schade, dass wir viel zu selten diese Augenblicke haben, oder? Warum also nicht häufiger mal diesen Zauber genießen und vorlesen oder sich vorlesen lassen? Und das, obwohl man den Text, das Buch eigentlich selber lesen könnte?
Wie unterschiedlich solche Vorlesemomente sein können, siehst du an den vier Vorlesemomenten, die ich heute mit dir teilen möchte.
1. Tränen auf dem Campingplatz
Vor ein paar Jahren war ich mit meiner Familie im Campingurlaub am französischen Atlantik. Es war sehr heiß und in der Mittagszeit hatten wir uns auf dem Campingplatz unter große Pinien in den Schatten zurückgezogen. Ich las das Kinderbuch „Linkslesestärke“ von Anja Janotta.
Eines meiner Kinder fragte, was ich da für ein Buch lese. Ich begann zu erzählen und las einen kurzen Abschnitt vor. „Weiter, lies weiter!“, hieß es, als ich aufhören wollte. Also las ich weiter, stundenlang, bis das Buch durch war.
Linkslesestärke von Anja Janotta
Mira und die Buchstaben, das ist eine ganz besondere Sache! Sie ist perfekt im Buchstabendrehen, nur mit der Rechtschreibung klappt es nicht so ganz. Ein eindeutiger Fall von „Linkslesestärke“ findet Mira.
Sie kämpft in der Schule mit der Rechtschreibung, keine einfache Situation. Aber so richtig schlimm wird die Situation für Mira, als sie auf einmal von ihren Mitschüler*innen mies behandelt wird.
Mich hat die Geschichte von Mira und ihren Problemen sehr bewegt und während ich vorlas, tropften immer wieder Tränen auf das Buch. Mir wurde von meinen Kindern Küchenrolle gereicht um die Tränen abzutrocknen, aber ich sollte bitte, bitte weiterlesen!
Während ich meine Tränen abtupfte, wurde mir klar, was wir gerade für eine besondere Situation erlebten. Die Kinder waren schon 10 und 12, es war heiß, wir waren am Meer. Und was machten wir? Wir saßen im Schatten und tauchten für Stunden gemeinsam in ein Buch ab und ich wurde von der Handlung so gepackt, dass ich weinen musste, während um mich herum das normale Camping-Leben tobte!
Das war übrigens nicht das erste Mal, dass mich ein Buch in der Öffentlichkeit zum Weinen gebracht hat.
2. Tränen im Hörsaal
Während meiner Studienzeit in Augsburg bot der Professor für Literaturdidaktik, Kaspar Spinner, eine ganz besondere Vorlesung an. Einmal in der Woche las er aus Neuerscheinungen der Kinder- und Jugendliteratur vor. Er sagte ein paar einleitende Worte zur Autorin oder zum Autor, gab einen Kurzüberblick über den Inhalt und dann ging es los und er las vor.
Vorlesungen sonst waren immer hoch-akademisch und wir Studierenden versuchten das Wichtigste mitzuschreiben (mit Stift auf Papier, das war noch im letzten Jahrtausend!). Hier aber, in der Vorlesestunde, machte ich nichts anderes als mir Autorenname und Titel des jeweiligen Buchs aufzuschreiben und dann – genießen. Und soll ich dir was sagen? Von dieser Vorlesung nahm ich so viel mehr mit als von den hochwissenschaftlichen Veranstaltungen!
In den Vorlese-Stunden lernte ich unter anderem Bücher von Kirsten Boie, Andreas Steinhöfel und Miriam Pressler kennen. Besonders ergriffen hat mich das Buch „Wenn das Glück kommt, musst du ihm einen Stuhl hinstellen“ von Miriam Pressler. In der Geschichte geht es um Halinka, die kurz nach dem 2. Weltkrieg in einem Heim aufwächst.
Wenn das Glück kommt, dann muss man ihm einen Stuhl hinstellen von Mirjam Pressler
Die 12jährige Halinka wächst in den 50iger Jahren in einem Heim auf. Sie ist sehr zurückhaltend und verschlossen und verzieht sich am liebsten auf dem Speicher in ihr geheimes Versteck, wo sie schreibt und träumt.
Eine Freundin möchte sie gar nicht, redet sie sich ein. Doch dann passiert es, sie freundet sich mit Rena an. Und so kann sie leichter ertragen, dass es wohl erst einmal nichts daraus wird, dass ihr Traum in Erfüllung geht und sie von ihrer heißgeliebten Tante Lou adoptiert wird.
Auf jeden Fall passierte es beim Zuhören dieses Buches, dass ich mitten im Hörsaal dezent vor mich hinheulte, so ergriffen war ich! Damals hatte ich nur sehr wenig Geld, aber ich erinnere mich noch, dass ich nach der Vorlesung sofort in den nächsten Buchladen ging und mir das Buch kaufte, um es zuhause noch einmal komplett zu lesen.
Als Lehrerin hätte ich mir gewünscht, immer mal wieder solche inspirierende Vorlesemomente wie durch Professor Spinner zu haben und auf diese Weise neue Autorinnen und neue Bücher zu entdecken. So etwas gab es allerdings nicht, zumindest wusste ich nicht davon.
3. Mit griechischen Göttern in die Jugendherberge
Interessante Kinder- und Jugendbücher suchte ich mir also in Eigenregie in Buchhandlungen, Büchereien und durch Empfehlungen im Internet zusammen.
Gerne las ich in meinen Klassen neben den obligatorischen Lektüren einfach mal etwas vor, ohne großartige pädagogische Hintergedanken: ganze Bücher, einzelne Kapitel oder eine Geschichte. Ab und zu passierte es, dass die Klasse von dem Text gepackt wurde und fast sauer wurde, wenn der Pausengong ging und das Vorlesen vorbei war.
Ich erinnere mich noch sehr gut an eine sehr unruhige 6. Klasse, in der ich eine Stunde lang „Percy Jackson erzählt Griechische Göttersagen“ vorlas. Vor allem die Jungen der Klasse waren vollkommen begeistert und mehrere wollten nach der Stunde das Buch ausleihen.
Percy Jackson erzählt Griechische Göttersagen von Rick Riordan
Percy Jackson, Halbgott und Hauptfigur der gleichnamigen Bücherreihe, erzählt in diesem Buch die Griechischen Göttersagen nach.
Das Ergebnis: Eine zugleich saukomische und lehrreiche Sammlung. Was mir gut gefallen hat: Die Göttersagen kannst du auch lesen und genießen, ohne die Percy-Jackson-Reihe zu kennen.
Nach der Klassenfahrt dieser Schüler*innen erzählte mir übrigens der Klassenlehrer, dass die Göttersagen mit in der Jugendherberge gewesen waren und die Kinder sich abends daraus vorgelesen hatten. Hach, wie schön! So sollte es viel öfter sein!
4. Auf dem Sofa meiner Kindheit
Und als letztes nehme ich dich mit in meine Kindheit, in die Vorweihnachtszeit. In meiner Familie wurde in dieser Zeit jedes Wochenende begeistert „Advent gefeiert“. Dazu gehörte, dass alle Kerzen im Wohnzimmer angezündet wurden, es gab Plätzchen und geschälte Äpfel und – das war das beste: Meine Mutter las aus unserem jeweiligen Adventsbuch vor. Es handelte sich dabei um ein Kinderbuch, das sie extra hierfür besorgt hatte. Soweit ich mich erinnere, gehörten Bücher von Ottfried Preußler, Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger zu unserer Adventslektüre.
Astrid Lindgren
Stellvertretend für die Vorlese-Bücher meiner Kindheit steht hier meine Astrid-Lindgren-Sammlung.
Die Geschichten über Ole, Lasse, Britta, Tjorven, Karlsson, Ronja, Pippi und co habe ich immer wieder mit großer Begeisterung gelesen.
Man sieht das den Büchern an. So darf es auch sein, finde ich.
Es war unglaublich gemütlich im Kerzenschein auf dem Sofa zu sitzen, Äpfel und Plätzchen zu futtern und meiner Mutter zuzuhören.
Ich weiß gar nicht mehr, wie lange diese Tradition zelebriert wurde. Auf jeden Fall konnte ich selber schon sehr gut lesen, als immer noch regelmäßig „Advent gefeiert“ wurde.
Das war eine wirklich schöne Kindheitserinnerung. Und soll ich dir etwas gestehen? Obwohl ich meinen Kindern immer viel vorgelesen habe, habe ich es nicht geschafft, das „Adventfeiern“ in meiner Familie zu etablieren. Mich hat der ständige Streit um die Plätzchen so genervt, dass ich das Projekt „Adventfeiern“ schnell wieder aufgegeben habe.
Ein bisschen bedauert habe ich, dass ich diese schöne Tradition meiner Kindheit mit meiner eigenen Familie nicht fortgeführt habe. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass jede Familie ihre eigenen Vorlese-Rituale schaffen darf.
Dir hat dieser Text gefallen? Dann könnten dich auch folgende Blogartikel interessieren:
Was für wunderschöne Bücher, liebe Ilka!!! Ich muss hier unbedingt mehr stöbern!!! Und in der Bücherei kommt gleich was auf die Wunschliste!!!
Kirsten Boie- Bücher liebe ich sehr! Ich lese gerade in der Schule „Ein Sommer in Sommerby“ vor und genieße wie gefesselt die Schulkinder von der Geschichte sind und wie die Sehnsucht nach dem Sich-Wichtig-Fühlen (wie bei Mikkel) spürbar ist <3
Liebe Julia,
ganz vielen Dank für deinen tollen Kommentar! Es ist immer ein ganz besonderer Augenblick, wenn Schüler*innen ganz gebannt von einer Lektüre sind, ich liebe diese Momente!
Viele Grüße
Ilka