Erkenntnisse aus meinem Gespräch mit der Wiener Psychologin und Lerntherapeutin Birgit Schmidtgrabmer
Wenn bei einem Kind massive Probleme beim Lesen und Schreiben vorliegen, dann steht schnell der Verdacht im Raum: Das Kind hat eine LRS oder Legasthenie!
Es gibt eine Vielzahl an Tests, die Auskunft darüber geben sollen, ob ein Schüler oder eine Schülerin von einer Legasthenie betroffen ist. Aber nicht alle diese Tests sind wissenschaftlich fundiert, berücksichtigen alle relevanten Bereiche dieser Störung und werden als Nachweis von Schulen oder Jugendämtern akzeptiert.
Legasthenie oder LRS – was ist der Unterschied?
Beide Begriffe beschreiben massive Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen. In Fachkreisen geht man davon aus, dass es eine erworbene und eine genetisch bedingte Variante gibt.
Bei der Benennung dieser beiden Varianten herrscht leider Uneinheitlichkeit. Teilweise wird LRS für eine erworbene Lese-Rechtschreib-Schwäche verwendet. Andere Fachpersonen und Fachverbände lehnen den Begriff „Legasthenie“ ab und ersetzen ihn durch LRS.
Im vorliegenden Text verwende ich wegen der besseren Lesbarkeit den Begriff Legasthenie.
1. Welche Legasthenie-Testung ist seriös und anerkannt?
In manchen Schulen wird mit kompletten Jahrgängen ein Rechtschreibtest durchgeführt. Die Überprüfung der individuellen Lesefertigkeit fehlt häufig. Dennoch wird oft den Kindern eine Legasthenie zugesprochen, die eine gewisse Fehlerzahl im Rechtschreibtest haben.
Teilweise führen auch lerntherapeutische Einrichtungen Tests durch, die darüber Auskunft geben sollen, ob ein Kind von Legasthenie betroffen ist oder nicht. Oft kommt dort der AFS-Test (Aufmerksamkeit-Funktion-Symptom-Test) zum Einsatz. Am Ende dieses Tests erhalten viele Kinder und Jugendliche eine Diagnose auf Legasthenie, die jedoch gar nicht gerechtfertigt ist.
Wie aber kann man überhaupt feststellen, ob bei einem Kind mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben eine Legasthenie vorliegt?
Eine wirklich solide Auskunft hierüber gibt eine klinisch-psychologische Testung, die nur durch Kinder- und Jugendpsychiater oder Kinder- und Jugendpsychotherapeuten durchgeführt werden darf. Diese Art der Diagnose ist sehr umfangreich und beinhaltet auch Testungen in Bereichen, die ein Laie nicht unbedingt mit Legasthenie in Verbindung bringen würde.
2. Legasthenie-Testungen können Spaß machen
Von Eltern, deren Kinder in der Nähe meines Wohnortes von psychologischen Fachpersonen auf Legasthenie getestet worden waren, habe ich oft Klagen über die kühle und nüchterne Atmosphäre während der Testung gehört.
Dass das durchaus anders sein kann, hatte ich mehrfach auf dem Instagram-Account der Wiener Psychologin und Lerntherapeutin Birgit Schmidtgrabmer gelesen. Die Kinder, die bei ihr getestet werden, fragen immer mal wieder, ob sie wiederkommen dürfen. Was für ein riesiges Kompliment!
Ich war neugierig, wie Birgit ihre Legasthenie-Testungen gestaltet und wie sie überhaupt zu einer Diagnose kommt. Während eines Gesprächs erzählte sie mir von ihrer Arbeit. Die wichtigsten Punkte fasse ich für dich in diesem Text zusammen.
3. Ablauf der Legasthenie-Diagnostik bei Birgit
Vor der Testung eines Kindes, bei dem ein Legasthenie-Verdacht besteht, führt Birgit mit den Eltern ein ausführliches Gespräch. Das Kind ist nicht dabei. Bei diesem Gespräch geht es um die bisherige Entwicklung des Kindes, die Situation mit Geschwisterkindern und innerhalb der Familie, die Kindergartenzeit, bisherige Probleme und Herausforderungen.
Die eigentliche Diagnostik führt Birgit vormittags durch, da sich die Kinder dann in der Regel am besten konzentrieren können. Mit Pausen kann so eine Testung 2-2,5 Stunden dauern. Wenn sich ein Kind nicht gut konzentrieren kann, wird der Test an zwei Vormittagen durchgeführt.
Im Anschluss an die eigentliche Testung wertet Birgit die erhobenen Daten aus und erstellt ein Gutachten. In einem Gespräch erläutert sie den Eltern ihre Befunde. Ganz besonders wichtig ist es ihr, die Eltern für die Stärken ihres Kindes zu sensibilisieren. Ergänzend gibt sie Tipps, was die Eltern selber unternehmen können, um an den Schwächen des Kindes zu arbeiten.
Birgit Schmidtgrabmer aus Wien
Klinische Psychologin und Legasthenietrainerin
Birgit Schmidtgrabmer
Birgit bietet in ihrer Praxis in Wien für Kinder und Jugendliche verschiedene klinisch-psychologische Testungen rund ums Lernen und Verhalten an, so auch einen Legasthenietest.
Außerdem unterstützt sie als diplomierte Lerntherapeutin Kinder und Jugendliche bei Problemen im Bereich des Lesens, Schreibens und der Mathematik.
Im Internet findest du Birgit hier. Dort kannst du dich auch über ihre Online-Angebote informieren. Aktuell bietet sie einen Konzentrationskurs für Kinder und einen LRS-Kurs für Lehrkräfte an.
Empfehlen möchte ich dir auch Birgits informativen und liebevoll gestalteten Instagram-Account.
4. Was wird bei einem Verdacht auf Legasthenie überhaupt getestet?
Bei einer Testung auf Legasthenie werden die Kinder im Lesen und in der Rechtschreibung geprüft. Hierzu verwendet Birgit normierte und standardisierte Tests (z.B. SLRT, HSP, ELFE). Für die verschiedenen Altersgruppen gibt es unterschiedliche Versionen der Tests.
Die von Birgit verwendeten Rechtschreibtests zeigen, in welchen Bereichen das Kind Schwierigkeiten hat. Neben den genannten Tests setzt sie auch einen Satzergänzungs-Test ein, mit dessen Hilfe Birgit das freie Schreiben des Kindes beurteilen kann.
Beim Lesen wird geschaut, wie sicher das Kind auf der Wort-, Satz- und Textebene ist und wie gut das Textverständnis funktioniert.
Neben den Tests zur Schriftsprache wird auch die Konzentrationsfähigkeit getestet.
Abgerundet wird die Diagnostik bei Birgit durch einen umfangreichen Intelligenztest.
Neben den einzelnen Testbestandteilen spielt auch die Verhaltensbeobachtung einen wichtigen Part in Birgits Diagnostik.
Der Intelligenztest im Rahmen der Legasthenie-Diagnostik
Die WHO definiert Legasthenie als Entwicklungsstörung im sprachlichen Bereich bei durchschnittlicher Intelligenz. Aufgrund dieser Definition spielt der Intelligenztest beim Nachweis einer Legasthenie eine wichtige Rolle.
Intelligenztests dürfen nur von Psycholog*innen durchgeführt werden. Die oben erwähnten Tests in Schulen oder Lerntherapeutischen Einrichtungen enthalten diese Komponente im Regelfall nicht und liefern daher auch keine solide Legasthenie-Diagnose.
Der Intelligenztest, den Birgit durchführt, ist sehr umfangreich und deckt folgende Teilbereiche ab:
- logisches Denken
- Allgemeinwissen
- Wortschatz
- räumliches Denken
- logisch-schlussfolgerndes Denken
- Rechnen
- Differenzierungsfähigkeit
- serielle Informationsverarbeitung
- Verarbeitungsgeschwindigkeit
- soziales Verständnis
- visuelle Merkfähigkeit
Übrigens machen gerade die Aufgaben des Intelligenztests den Kindern in Birgits Praxis besonders Spaß, da sie abwechslungsreich und spielerisch sind.
Einen Intelligenzquotienten (IQ) berechnet Birgit nicht standardmäßig aus den Daten, die sie durch die Testung erhält. Anstelle dessen stellt sie die im Test nachgewiesenen Stärken und Schwächen des Kindes grafisch dar und erläutert sie so den Eltern.
5. Wer kommt zu Birgit?
In Birgits Privatpraxis kommen Familien, bei deren Kindern ein Verdacht auf Legasthenie besteht. Teilweise erfolgt die Testung auf Anraten von Lehrkräften. In anderen Fällen wünschen die Eltern von sich aus eine Abklärung.
Im Gegensatz zu Kassen-Praxen gibt es bei Birgit zeitnah Termine, innerhalb von 3-4 Wochen. Die Kosten in Höhe von 300-400 Euro tragen die Familien.
6. Was sind die Vorteile eines klinisch-psychologischen Legasthenie-Tests?
Die Tests, die in einer psychologischen Praxis zum Einsatz kommen, sind standardisiert und normiert und basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wer bei seinem Kind einen solchen Test durchführen lässt, kann sich also sicher sein, dass auch wirklich die Bereiche getestet wurden, die bei einer Legasthenie relevant sind und dass die Ergebnisse seriös sind.
Gerade, wenn man beunruhigt ist, was mit der Tochter oder dem Sohn los ist, kann eine Fachdiagnose für alle Familienmitglieder hilfreich und entlastend sein.
Ein weiterer Grund, der für die klinisch-psychologischen Legasthenie-Testung sprechen kann, ist ganz praktischer Natur. Für Schüler*innen mit Legasthenie kann in der Schule besondere Unterstützung beantragt werden. Das betroffene Kind kann beispielsweise einen Nachteilsausgleich (z.B. mehr Zeit in Arbeiten, Gebrauch von Hilfsmitteln) oder einen Notenschutz (Aussetzen der Benotung der Rechtschreibung) erhalten. Für den Nachteilsausgleich und den Notenschutz verlangen viele Schulen eine klinisch-psychologische Legasthenie-Diagnose.
7. Wo findest du für dein Kind Unterstützung bei Legasthenie-Verdacht?
Nicht jede*r wird sein Kind zu Birgit zur klinisch-psychologischen Legasthenie-Diagnostik bringen können. Welche Möglichkeiten hast du, dein Kind mit Lese- und Rechtschreibproblemen zu unterstützen?
Wenn du den Verdacht hast, dass bei deinem Kind Legasthenie vorliegen könnte und du überlegst, es testen zu lassen, empfehle ich dir zuerst einmal ein Gespräch mit der Klassenleitung und/oder der Deutschlehrkraft.
Einerseits kannst du in diesem Gespräch erfahren, welchen Eindruck die Lehrer*innen von deinem Kind haben und ob sie deinen Eindruck teilen. Andererseits erfährst du bei einem solchen Gespräch, ob und unter welchen Umständen für dein Kind ein Nachteilsausgleich oder Notenschutz möglich ist. Je nach Schule und Bundesland ist nämlich nicht zwangsweise eine klinisch-psychologische Diagnose erforderlich, damit dein Kind Unterstützung oder einen Nachteilsausgleich erhält. Eine bundesweit einheitliche Regelung existiert hierzu nicht, hier findest du weiterführende Informationen zu diesem Bereich.
Ganz unabhängig davon, ob du dein Kind klinisch-psychologisch auf Legasthenie testen lassen möchtest oder nicht – es ist wichtig, dass dein Kind so schnell wie möglich eine individuelle Förderung erhält.
Für die fachliche Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben ist die klinisch-psychologische Legasthenie-Diagnose übrigens nicht notwendig. Am Anfang eines individuellen Lese- oder Rechtschreibtrainings wird nämlich der Lernstand des Kindes im Lesen und Schreiben gründlich ermittelt und darauf aufbauend die weitere Förderung geplant. Man spricht hierbei von Förderdiagnostik.
Unterstützung findest du bei Lernexperten, die sich auf die Betreuung Menschen mit massiven Schwierigkeiten im Umgang mit der Schriftsprache spezialisiert haben, wie z.B. Lerntherapeut*innen, Lerntrainer*innen oder Legasthenietrainer*innen.
Tut sich dein Kind mit der Rechtschreibung schwer? Macht es trotz Übens keine sichtbaren Fortschritte?
Dann ist vielleicht mein Rechtschreib-Check etwas für Euch. Anhand von Texten deines Kindes finde ich heraus, an welchen Stellen des Rechtschreibprozesses es noch Schwierigkeiten hat. Basierend auf meiner Analyse erstelle ich einen Rechtschreib-Fahrplan, in dem Ihr genau erfahrt, in welcher Reihenfolge und auf welche Art Ihr welches Rechtschreib-Problem angehen solltet. So fällt es Euch leichter gezielt und erfolgreich die Rechtschreibung deines Kindes zu verbessern.
Hier erfährst du mehr über den Rechtschreibcheck.
Liebe Ilka, ein sehr ausführlicher und sehr informativer Artikel. Toll, wie persönlich du die LRS-Testung von Birgit beschreibst
Da geht man als Kind sicher gerne hin.
Liebe Diana,
ganz lieben Dank für deine netten Worte! Ich war auch begeistert, was Birgit erzählt hat. Von den Familien, mit denen ich arbeite, höre ich oft von kalten und unpersönlichen Testungen, wo nur auf den Defiziten der Kinder rumgeritten wird. Das ist so traurig. Ganz oft ist dann einer meiner wichtigsten Jobs bei der Zusammenarbeit, den Eltern zu zeigen, was ihr Kind schon alles kann und welche Fortschritte es macht.
Viele Grüße
Ilka
Liebe Ilka, danke für den Beitrag! Mir fiel auf, dass in Deinem Text zwischen erworbener und genetisch bedingte Störung unterschieden wird. Mir ist das neu. Ich dachte immer, man spricht von einer erworbenen Schwäche (nicht Störung) und von einer genetisch bedingten Störung. Ist der Begriff erworbene Störung neu? Ich fände das gut, denn für die praktische Förderung brauche ich die Unterscheidung zwischen Schwäche und Störung sowieso nicht. Mich interessiert, ob und wie man den Unterschied zwischen den Varianten Schwäche und Störung feststellt. Beim BVL ist das ja echt ein Thema. Hast Du da Informationen? Gruß Siegbert
Lieber Siegbert,
ganz vielen Dank für deinen wertvollen Kommentar. Du hast natürlich recht, dass es hier „Schwäche“ und nicht „Störung“ heißen müsste. Das werde ich sofort ändern.
Viele Grüße
Ilka