Bestimmt hast du schon einmal eine ähnliche Situation erlebt: Ein Kind kann eine Rechtschreibregel perfekt. Entsprechende Übungen bearbeitet es fehlerfrei. Wenn es allerdings darum geht, einen freien Text zu schreiben, macht es in genau dem Bereich wieder viele Fehler.
Wenn du mit dem Kind noch einmal gemeinsam den Text durchgehst, findet es selber ganz viele seiner Fehler und kann diese auch verbessern.
Das ist ein typischer Fall von Trägem Wissen. Das Wissen ist vorhanden, kann aber nur angewendet werden, wenn es bei deinem Kind gezielt abgerufen wird.
Im Fall der Rechtschreibung könnte das bedeuten, dass dein Kind sehr gut weiß, in welchen Fällen es bei der S-Schreibung ein s, ein ß oder ss schreiben muss. Das funktioniert, solange es seine Aufmerksamkeit hierauf lenkt. Schreibt es allerdings einen Aufsatz, konzentriert es sich vor allem auf den Inhalt. Die Folge: Es macht wieder viele Fehler rund ums s.
Wie kann es nun gelingen, dass das träge in aktives Wissen umgewandelt wird und dein Kind die Rechtschreibregeln auch beim freien Schreiben berücksichtigt?
Eine Erklärung dazu liefert ein Modell aus der Entwicklungspsychologie an, die Kompetenzstufenentwicklung.
1. Die Kompetenzstufenentwicklung
In den 1970iger Jahren entwickelte Noel Burch das Kompetenzstufenmodell, das sich aus vier Stufen zusammensetzt. Damit beschreibt er den Weg einer ahnungslosen Person, die von einem bestimmten Wissensgebiet überhaupt keine Kenntnis hat, hin zu einer kompetenten Person, die ihr Wissen ohne nachzudenken anwendet.
Hier nun ein Schnelldurchlauf durch die verschiedenen Kompetenzstufen:
1. Stufe: Unbewusste Inkompetenz
„Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß.“
Auf der ersten Stufe ist sich der Mensch seiner eigenen Defizite nicht bewusst. Dafür fehlt es ihm an Wissen.
2. Stufe: Bewusste Inkompetenz
„Ich weiß, dass ich etwas nicht weiß oder kann.“
Der Mensch erkennt in diesem Stadium, dass er Defizite hat. Das kann dazu führen, dass er diese abbauen möchte und daher eine hohe Lernbereitschaft entwickeln kann.
3. Stufe: Bewusste Kompetenz
„Ich weiß, dass ich etwas weiß und kann das Wissen bewusst abrufen.“
Die Person verfügt auf dieser Stufe über Kompetenz. Diese ist allerdings noch so ungefestigt, dass sich die Person noch stark auf die Durchführung konzentrieren muss.
4. Unbewusste Kompetenz
„Ich wende mein Wissen automatisch an und denke nicht darüber nach.“
Auf dieser Kompetenz-Stufe ist sich die Person gar nicht mehr bewusst, dass sie das Wissen anwendet. Es ist automatisiert und wird immer ohne nachzudenken angewendet.
2. Träges in aktives Wissen verwandeln
Nach dem Kompetenzstufenmodell steht das Kind, das ich ganz am Anfang des Textes beschrieben habe, auf der 3 Stufe. Es kann eine Rechtschreibregel gut anwenden, wenn es sich darauf konzentriert.
Ziel ist es aber, die 4. Stufe zu erreichen. Die Rechtschreibung wird auf dieser Ebene so sicher beherrscht, dass sie automatisiert ist und sich das Kind auf den Inhalt beim Schreiben eines Aufsatzes konzentrieren kann.
3. Ein möglicher Ablauf um die Schreibung zu automatisieren
Damit dein Kind sein Rechtschreibwissen auch beim freien Schreiben anwenden kann, muss es Routinen entwickeln. Diese können ihm dabei helfen, Schritt für Schritt zum automatisierten Rechtschreiben zu kommen.
Schauen wir einmal an, wie dies gelingen kann. Ich verwende als Beispiel weiterhin die S-Schreibung. Du kannst diesen Ablauf aber selbstverständlich auf jedes andere Rechtschreibthema übertragen.
a. Als allererstes solltest du überprüfen, ob dein Kind die entsprechende Rechtschreibregel wirklich gut beherrscht. Zeigt es noch Unsicherheiten, ist es noch nicht so weit, sein Wissen automatisieren zu können.
Wie kannst du vorgehen, wenn dein Kind die Regel noch nicht ganz sicher beherrscht?? Ihr könnt beispielsweise gemeinsam die Regel wiederholen und einen Merkzettel schreiben, den das Kind beim Üben verwenden darf. Dann kann dein Kind Einsetzübungen machen und bei jedem Schritt begründen, warum es sich für die jeweilige Schreibung entscheidet. Dadurch wiederholt es immer wieder die Regel und wendet sie an.
b. Wenn dein Kind sicherer ist, kann es den Merkzettel beiseite legen und weiterhin Übungsaufgaben machen bis es bei der S-Schreibung nicht mehr nachdenken muss, in welchem Fall welches s geschrieben werden muss. Ich beobachte oft, dass dieser Schritt zu kurz ausfällt und das Kind die Regel noch nicht wirklich verinnerlicht hat. Also lasst Euch ruhig ausreichend Zeit hierbei.
b. In einem nächsten Schritt ist es sinnvoll, wenn das Kind Fehler-Texte korrigiert, bei denen die s-Schreibung im Vordergrund steht. Solch einen Text findest du beispielsweise bei der Gemeinschaftsschule Struensee. Zu anderen Rechtschreibbereichen bietet meine Kollegin Diana Rohrbeck Fehlertexte an.
c. Schließlich geht es darum, selber Texte zu verfassen, in denen die S-Schreibung geübt wird. Nach dem Schreiben schaut sich dein Kind den eigenen Text mit besonders vielen S-Schreibungen noch einmal an und überprüft selber, ob es die Wörter mit s richtig geschrieben hat.
d. . In einem letzten Schritt kann dein Kind alle seine eigenen Texte daraufhin überprüfen, ob die s-Schreibung immer korrekt verwendet wurde.
Übrigens ist die Eigenkorrektur das große Ziel im Rechtschreibunterricht. Beim Fokus auf das Schreiben kann es immer wieder passieren, dass dein Kind Fehler macht. Wenn es diese selber findet und verbessert, ist das jedoch überhaupt nicht schlimm. Aus diesem Grund ist es absolut sinnvoll, wenn dein Kind sich das Überarbeiten eigener Texte zur Routine macht. Wird von vielen Kindern zwar als lästig und unangenehm empfunden, bringt aber wirklich viel.
Wir alle haben in unserem Leben bereits einiges Gelernte automatisiert – vom Laufen, übers Kochen bis hin zum Autofahren. Bei allen diesen Tätigkeiten dauert es, bis wir sie so verinnerlicht haben, dass wir sie „wie im Schlaf“ durchführen können. Das ist bei der Rechtschreibung nicht anders: Es dauert, bis eine Schreibung automatisiert ist.
Ich wünsche Euch viel Erfolg beim Üben! Und dann klappt es bei deinem Kind auch irgendwann:
Liebe Ilka, schöner und informativer Artikel! Danke für die Erklärung der 4 Stufen!
Liebe Uli,
vielen Dank für deine netten Worte!
Liebe Ilka,
ein sehr informativer Artikel. Dieses Modell kannte ich gar nicht. Es gibt für mich also auch noch etwas zu lernen.
Meine Kinder sind jetzt erwachsen. Diese Info hätte ich gerne in der Schulzeit gehabt. In der Schule ist so etwas auch nicht angewendet worden. Schade.
Ich wünsche allen Kids, dass praktikable Methoden angewendet und angeboten werden, vor allem ein Mittel zur Selbstkontrolle.
Herzliche Grüße, Birgit
Liebe Birgit,
leider ist es ja so, dass viele Dinge, die überaus sinnvoll wären, nicht in der Schule thematisiert werden. Es wäre echt gut, wenn die Lehrerausbildung und Fortbildungen diesbezüglich reformiert würden. Sich auf eigene Faust in alle möglichen Gebiete einzufuchsen neben dem normalen Lehreralltag ist äußerst herausfordernd, wie ich sehr gut weiß.
Viele Grüße
Ilka
Liebe Ilka,
das Kompetenzstufenmodell kannte ich bereits, jedoch nicht bezogen auf die Rechtschreibung, sondern von meiner Physiotherapeutin, die dies für ihre auf mich spezialisierten Übungen übertragen hat. Lustig, oder?
Dieses Modell ist somit sehr nützlich, wenn es um das Erlernen von Automatismen geht.
Danke für diesen Aha-Moment!
Gruß
Gabi
PS: Als Korrektorin und Lektorin bin ich, was Rechtschreibung angeht, sehr sicher. Liegt das wohl daran, dass ich in meiner Kindheit sehr viel geschrieben und abgeschrieben (z. B. Gedichte und Songtexte) habe? Wer weiß … 🙂
Liebe Gabi,
das ist ja cool, dass du das Kompetenzstufenmodell aus einem ganz anderen Kontext kennst.
Aber letztendlich lässt es sich auch vieles übertragen. So habe ich das ja schließlich auch mit der Rechtschreibung gemacht.
Viele Grüße
Ilka