Wie lernt ein Kind lesen?

Mein Kind kann noch nicht lesen _ Junge mit Buch und herumwirbelnden Buchstaben

Wenn das eigene Kind die ersten Lese- und Schreibversuche machen, beschäftigen sich viele Eltern das erste Mal intensiver mit der Frage: Wie lernt man überhaupt lesen?

Als Kind oder vielleicht auch später hast du selber das Lesen gelernt, aber das ist lange her und vielleicht war dir auch damals nicht klar, was du beim Lesenlernen alles geleistet hast.

Lass uns deshalb mal gemeinsam schauen, was dein Kind alles für Teilkompetenzen erwerben muss, um richtig lesen zu können.

Die Vorläuferfähigkeiten fürs Lesen und Schreiben

Wusstest du schon, dass das Lesenlernen nicht erst mit der Einschulung beginnt? Während der Kindergartenzeit entdecken Kinder sprachliche Strukturen und begreifen, welche Bedeutung das Lesen und das Schreiben haben.

Sicherlich hast du bei Kindergartenkindern schon erlebt, dass sie gerne reimen oder spielerisch mit Silben umgehen. Sie entdecken, dass die Sprache neben einer inhaltlichen auch eine formale Seite hat. Dieser Vorgang wird als Phonologische Bewusstheit bezeichnet.

Das Experimentieren mit der Sprache ist sehr wichtig, denn mit dem Reimen, rhythmischem Sprechen in Silben oder dem Erkennen einzelner Laute legen die Kinder eine wichtige Grundlage für das spätere Lesen- und Schreibenlernen in der Schule.

Auf dem Instagram-Profil starkesprache der Logopädin Wiebke Schomaker findest du spielerische Ideen zur Förderung der Phonologischen Bewusstheit

Während der Kindergartenzeit machen Kinder oft erste Schreibversuche und „schreiben“ (oder malen vielmehr) ihren Namen und andere für sie wichtige Wörter. Oft beginnt in der Phase auch ein erstes „Lesen“, wenn Kinder ihnen bekannte Schriftzüge wiedererkennen, zum Beispiel Logos von Geschäften oder Marken oder auch einzelne Buchstaben.

In dem Alter ist es außerdem normal, dass Kinder in ihrem Spiel das Lesen und Schreiben imitieren, wenn sie beispielsweise ihren Kuscheltieren ein Buch „vorlesen“ oder einen Einkaufszettel „schreiben“.

Von der gesprochenen Sprache zur Schriftsprache

Während sich im Kindergarten die Beschäftigung mit Sprache hauptsächlich auf das Gesprochene bezieht, rückt in der Grundschule die Schriftsprache ins Zentrum. Dein Kind taucht mit Beginn der 1. Klasse intensiv in die Welt der Buchstaben ein.

Wenn du dich mit wissenschaftlichen Texten rund ums Lesenlernen beschäftigst, wirst du auf Stufenmodelle treffen, die zeigen sollen, was ein Kind auf welcher Stufe lernt und welche weiteren Fertigkeiten darauf aufbauen.

Übrigens wird in diesen Stufenmodellen zum Leseerwerb die Kindergartenzeit als eine Vorstufe zum eigentlichen Lesen- und Schreibenlernen begriffen.

Das Lesenlernen in der Schule

Die Laut-Buchstaben-Zuordnung

Im ersten Schuljahr lernt dein Kind Schritt für Schritt die Buchstaben kennen und welchen Lauten sie entsprechen. Diese Laut-Buchstaben-Zuordnung ist gar nicht so einfach, weil wir in unserer Sprache mehr Laute als Buchstaben haben und ein Buchstabe für mehrere Laute stehen kann. Ist dir beispielsweise bewusst, dass das [e] für unterschiedliche Laute verwendet wird? So wird es als Anlaut (Wortanfang) ganz anders ausgesprochen als am Wortende. Einige Laute werden zudem durch eine Kombination aus mehreren Buchstaben verschriftlicht, beispielsweise [sch].

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Lauten und Buchstaben?

Einen Laut sprichst oder hörst du. Der Laut gehört also zur gesprochenen Sprache. Der Buchstabe hingegen ist das, was du lesen oder schreiben kannst und ist ein Bestandteil der Schriftsprache.
Im Deutschen haben wir übrigens 26 Buchstaben (plus ß und die Umlaute ä, ü und ö) und über 40 unterschiedliche Laute. Es gibt also mehr Laute als Buchstaben. Das ist ein Grund dafür, dass im Deutschen nicht alles so geschrieben wird, wie man es spricht. Denn einige Buchstaben werden für mehrere Laute verwendet.

Mein Tipp für dich: Wenn du mit deinem Kind lesen und schreiben übst, solltest du besser die Laute nennen und nicht die Buchstaben (so wie wir sie im Alphabet sprechen). Ansonsten kann es passieren, dass dein Kind die Silbe MA so schreibt: „em-a“.

Bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung warten noch weitere Herausforderungen auf die Leseanfänger. So ist es für einige Kinder nicht einfach, die Verbindungen aus zwei unterschiedlichen Vokalen (Diphthonge), wie z.B. [au], [ei], [eu] zu lesen.

Herausfordernd sind auch spezielle Buchstabenkombinationen wie [qu], [st] oder [sp], die nicht lautgetreu geschrieben werden.

Mein Kind kann nicht lesen_Laut-Buchstaben-Zuordnung
Welcher Laut passt nun? Gar nicht so einfach, was ein Kind beim Lesenlernen alles leisten muss!

Verschmelzung zu Silben

Wenn dein Kind die Laut-Buchstaben-Zuordnung beherrscht, wartet die nächste Leseherausforderung: Das Verschmelzen der Buchstaben zu Silben oder einsilbigen Wörtern (Synthese).

Aus Abzählreimen und Klatschspielen kennt dein Kind sicherlich Silben. In der Schule lernt dein Kind Wichtiges über den Aufbau einer Silbe und erfährt, dass sich in jeder Silbe ein Vokal („König“) befinden muss.

Besonders herausfordernd kann es auf diesem Level für dein Kind sein, längere Wörter in Silben zu gliedern oder Konsonantenhäufungen zu lesen (Brezel, Flasche).

Dein Kind beherrscht diese Stufe, wenn es systematisch jeden einzelnen Buchstaben von rechts nach links „übersetzt“ und zu Silben oder Wörtern verschmelzt.

In dem Stadium ist es wichtig, dass dein Kind schnell die Silben auf einem Blick erfassen und in Laute übersetzen kann.

Alles, was dein Kind liest, wird kurze Zeit im Arbeitsgedächtnis (auch Kurzzeitgedächtnis) abgespeichert. Wenn dein Kind dort anstelle einzelner Buchstaben komplette Silben oder Wörter für kurze Zeit speichert, hat es mehr Kapazität, um sich auf den Inhalt des Gelesenen zu konzentrieren.

Wörter lesen

Der Übergang vom Silbenlesen zum Wörterlesen ist fließend. Zumal ja auch viele Wörter nur aus einer Silbe bestehen. Das schnelle Erfassen und „Übersetzen“ ist nicht nur beim Lesen der Silben wichtig. Diese Fähigkeit spielt auch beim Lesen von Wörtern eine große Rolle. Nach und nach baut dein Kind so seinen Sichtwortschatz auf. Mit dem Sichtwortschatz sind all die Wörter gemeint, die wir als Ganzes im Gehirn abspeichern, blitzschnell erkennen und die wir deshalb nicht mehr Buchstabe für Buchstabe entziffern müssen.

Dadurch, dass dein Kind auf einen Blick Silben oder komplette Wörter erfasst, wird sein Lesen schneller. Eine ausreichend hohe Lesegeschwindigkeit ist wichtig, damit dein Kind nicht schon beim Lesen eines Wortes, Satzes oder Textes vergisst, was es kurz zuvor gelesen hat. Beim Lesen von Wörtern spielt neben der Lesegeschwindigkeit auch die Lesegenauigkeit eine wichtige Rolle. Denn nur, wenn dein Kind ein Wort korrekt gelesen hat, kann es einen Abgleich mit dem „inneren Wörterbuch“ vornehmen und überprüfen: „Kenne ich dieses Wort? Was bedeutet es?“

Wenn dein Kind Wörter angemessen schnell und genau liest, kannst du davon ausgehen, dass es das Lesen automatisiert hat. Es benötigt dann kaum noch Konzentration und Aufmerksamkeit für die eigentliche Lesetechnik und kann sich auf den Inhalt konzentrieren.

Übrigens ist es nicht so, dass die zuvor erworbenen Lesetechniken wie Buchstabenentziffern oder silbisches Lesen komplett wegfallen, wenn die nächsten Schritte im Leselern-Prozess gemacht werden. Auch geübte Leser müssen unbekannte Wörter Buchstabe für Buchstabe oder Silbe für Silbe entschlüsseln. Mir geht das beispielsweise jedes Mal so, wenn ich beim Lesen einer Packungsbeilage über komplizierte medizinische oder pharmazeutische Bezeichnungen stolpere.

Kind kann nicht richtig lesen_ Kind im Buchstabenstrudel

Sätze lesen

Flüssiges und exaktes Lesen ist auch bei Sätzen sehr wichtig. Andernfalls kann es passieren, dass dein Kind am Satzende vergessen hat, was es am Beginn des Satzes gelesen hat.

Als weitere Herausforderung kommt auf dieser Stufe des Leselern-Prozesses dazu, dass dein Kind die Beziehungen zwischen den einzelnen Wörtern eines Satzes erkennen muss.

Texte lesen

Am anspruchsvollsten ist es für dein Kind, komplette Texte zu lesen. Dabei sind Kompetenzen gefordert, die das eigentliche Lesen übersteigen, wie beispielsweise

  • Informationen der Sätze miteinander verbinden
  • entscheiden, welche Dinge in dem Text wichtig sind und welche eher unwichtig
  • Schlussfolgerungen ziehen, da Texte oft Leerstellen enthalten, die durch Schlussfolgerungen der Lesenden gefüllt werden müssen

Was bringt es dir, die verschiedenen Lesestufen zu kennen?

Vielleicht fragst du dich, warum es für dich als Elternteil sinnvoll sein soll, dir über die verschiedenen Lesestufen und ihre Herausforderungen bewusst zu sein?

Wenn dein Kind mit dem Lesen Probleme hat und ihr üben wollt, sollte klar sein, auf welcher Stufe ihr ansetzt. Klingt logisch oder? Oft liegen die Ursachen von Leseproblemen nämlich an einer anderen Stelle als vermutet, vielleicht sogar auf einer Stufe, die dein Kind eigentlich schon lange beherrschen sollte.

Daher kann es sinnvoll sein, dass du vor dem eigentlichen Lesenlernen überprüfst, ob dein Kind alle wesentlichen Lesestrategien der unterschiedlichen Stufen beherrscht.

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